Lieber Vater,
vorgenommen habe, dich in der Türkei zu besuchen. Wie meine Mutter mir erzählt hat, verbringst du den Sommer immer in deinem Heimatdorf in Anatolien. Sie sagt, du denkst, ich sei Koch, so wie du. Wie wenig wir voneinander wissen. Ich bin Journalist geworden und mache Dokumentarfilme.
Das einzige, was ich von dir habe, sind zwei Fotos, eine Postkarte und die Erinnerung daran, wie du eines Tages plötzlich vor mir standest. Du wirst dich fragen, warum ich mich jetzt erst melde. Es ist nicht so einfach, einen türkischen Vater zu haben, den man nicht kennt. Als Kind habe ich deshalb manchmal erzählt, dass du Franzose bist.
Jetzt möchte ich dich endlich kennen lernen. Gulay, unsere Nachbarin, könnte mitkommen und übersetzen.
Wenn du einverstanden bist, würde ich eine Kamera mitbringen. Ich habe nämlich die Idee einen Film über dich zu machen.
Du solltest wissen, dass meine Mutter dein Weggehen nie überwunden hat. Vor einiger Zeit hat sie mir ihre Tagebuchaufzeichnungen gegeben. Sie hat alles aufgeschrieben. Wie ihr euch kennen gelernt habt. Das hat mich sehr berührt.
Viele Grüße auch an deine Frau und meine Schwestern!
Dein Sohn
(Aus einem Brief von Marcus Attila Vetter. In: „Mein Vater, der Türke“)
Inhalt:
Marcus Attila Vetter, ein bekannter Dokumentarfilmregisseur, hat seinen türkischen Vater nur einmal in seinem Leben kurz gesehen. Damals war er sieben Jahre alt. Davor und danach gab es nie einen Kontakt zwischen ihnen. Nun, mit 38 Jahren, macht er sich auf den Weg in das kleine anatolische Bergdorf Cubuk Koye. Er will die Geschichte seiner Herkunft begreifen und einen Mann treffen, der für ihn ein Fremder ist: seinen Vater Cahit Cubuk.
„Mein Vater, der Türke“ zeigt die Begegnung des Autors mit der Familie seines mittlerweile 72-jährigen Vaters im Sommer 2005. Insgesamt drei Wochen verbringen sie miteinander, begleitet von einem Kamerateam und einer Übersetzerin. In der Türkei wird Marcus Attila aber nicht nur von seinem Vater, sondern auch von zweien seiner vier türkischen Halbschwestern empfangen. Es wird eine Begegnung voller Überraschungen. Der Sohn konfrontiert den Vater mit seinen Fragen: Warum hat er damals seine Mutter verlassen? Warum war er nie für ihn da? Auch die Schwestern sprechen mit dem Vater erstmals über ihre Gefühle: Warum war der Vater in ihrer Kindheit fast immer abwesend? Der Vater entzieht sich zunächst den Fragen, muss sich ihnen aber schließlich stellen.