Seit Jahren beschreibt Cristian Mungiu (4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage, Jenseits der Hügel) den Zustand seines Heimatlandes Rumänien. Mit Bacalaureat (Graduation) arbeitet er sich abermals an den heimischen Zuständen ab. Alles beginnt mit einem Lichtblick: Eliza (Maria-Victoria Dragus). Das Mädchen mit den langen, blonden Haaren und breiten Lächeln ist des Arztes Romeo (Adrian Titieni) ganzer Stolz.
(Bild aus Bacalaureat von Cristian Mungiu; Copyright: Mobra Films / Why Not Productions / les Films du Fleuve)
Seine Tochter wird nach ihren Abschlussprüfungen nach Cambridge gehen und dort Psychologie studieren. Ihr ganzes bisheriges Leben wurde auf diesen Moment hingearbeitet. Privatstunden, Nachhilfe, die besten Schulen. Ihr soll es nicht ergehen wie ihren Eltern, die 1991 dachten, sie könnten in Rumänien alles ändern und verbessern, und nun gestrandet sind in einem Land, das ihnen nichts zu bieten hat; im Gegenteil, es arbeitet stetig gegen sie an.
Nur noch drei Prüfungen stehen der brillanten Zukunft im Weg. Doch einen Tag vor Beginn der Prüfungsphase wird Eliza überfallen und vergewaltigt. Ihr Arm, den sie zum Schreiben braucht, ist gebrochen. Genau wie ihre Konzentration. Eliza steht unter Schock, aber ihr Vater weiß es besser und drängt sie dazu, am nächsten Tag den ersten Test zu schreiben. Doch ihr Ergebnis ist nur gut. Sie braucht 9.5 von 10 Punkten, damit Cambridge sie aufnimmt. Also beginnt Romeo alles daran zu setzen, seiner Tochter zu helfen. Und zwar auf die einzige Art, die in Rumänien funktioniert. Er nutzt seine Kontakte und fragt Freunde und Bekannte um Hilfe. Hier ein kleiner Gefallen, da ein zugedrücktes Auge. Schon hat er erreicht, dass Elizas weitere Prüfungsbögen "gesondert bewertet" werden. Als er seiner Tochter die frohe Botschaft überbringt, ist sie aber eher geschockt als glücklich. Doch das ist nicht das einzige Problem in Romeos Leben. Irgendjemand schmeißt permanent die Scheiben seines Autos mit Steinen ein. Seine Frau Magda (Lia Bugnar) ist eindeutig depressiv und hat die Ehe mit ihm faktisch schon beendet. Die alleinerziehende Sandra, mit der er seit einem Jahr eine Affäre hat, ist eventuell schwanger von ihm. Und Eliza ist verliebt in einen Tunichtgut. Dann meldet sich plötzlich die Polizei bei ihm – den Deal für die guten Zensuren für seine Tochter hat er leider bei dem Falschen gemacht.
(Trailer zu Bacalaureat von Cristian Mungiu)
Ganz langsam, bedächtig und äußerst präzise arbeitet sich Bacalaureat (Graduation) Schicht für Schicht in die Untiefen seines Dramas vor. Mit jedem Ereignis und jedem Versuch Romeos, die Situation in den Griff zu bekommen, bricht ein wenig der Oberfläche auf und zeigt darunter das verrottete Fleisch. Zwei kleine, stille Kriege sind hier zu finden. Der erste ist der der Aufrechten Rumäniens, die Dinge verändern und ehrlich, ohne Korruption und Mogeleien ihr Heimatland wiederaufbauen wollten. Diese Menschen, nunmehr in ihren 50ern, sind desillusioniert über die Zustände und verbittert darüber, dass das Land sie letztendlich verraten hat. Die Jugend wie Eliza versteht hingegen dieses Ressentiment und die Härte der Älteren nicht und wehrt sich dagegen, dass diese ihnen die Zukunft vorherbestimmen wollen, immer aus der Position ihrer eigenen Geschichte heraus. Sie wünscht sich nicht zu Unrecht eine Chance auf eine Zukunft, die nicht permanent in Abhängigkeit zur Vergangenheit Rumäniens steht, nichtsahnend, dass solch ein Zustand fast unmöglich ist. Doch es ist das Recht und die nicht einfache Aufgabe der Jugend optimistisch zu sein. Auch Eliza wurde nie nach ihrer Vorstellung gefragt. Von Anfang an scheint klar, dass Cambridge nicht unbedingt ist, was sie will. Doch sie hat wenig Mitspracherecht. Gegen ihren Vater muss Eliza regelrecht aggressiv vorgehen und sich gegen ihn aufbäumen, um eine Chance auf Selbstbestimmung zu bekommen. Dabei meint es Romeo gut. Er weiß um die Naivität seiner Tochter und möchte sie beschützen, sie bewahren vor dem Krieg, in den sie jetzt ungeschützt eintreten muss. Dieser Krieg ist ein stiller Bürgerkrieg, seine aktiven Waffen sind Korruption und Vetternwirtschaft, seine passiven das Wegschauen, Ignorieren und Verrecken lassen.
(Bild aus Bacalaureat von Cristian Mungiu; Copyright: Mobra Films / Why Not Productions / les Films du Fleuve)
Bacalaureat (Graduation) bearbeitet sein Thema mit einer kühlen, entrückten Präzision. Stets unaufgeregt, beschreibt er die Bedingungen, in denen auch gute Menschen wie Romeo in ein System einsteigen, das sie eigentlich bekämpfen, und darin, wie so viele andere, verstricken und unterzugehen drohen. Deshalb ist Bacalaureat (Graduation) auch ein Film über Schuldgefühle und Scham, der sich die Frage stellt, was eigentlich Gut und Böse ist und ob man diese zwei Pole in einem Land wie Rumänien, in dem irgendwie immer alles grau ist, überhaupt dichotom sehen kann.
(Beatrice Behn)